Estland (14.07.2018 – 23.07.2018)

Über das Baltikum wussten wir praktisch nichts. Junge Nationen, durch EU-Gelder ziemlich im Aufschwung, russischer Einschlag - Punkt. Der Reiseführer verriet uns, dass die Esten es garnicht gerne hörten, wenn man sie mit den anderen beiden baltischen Staaten in einen Topf warf, geschweige denn mit dem großen Bruder Russland. Estland zählt sich selbst eher als nordisches, anstatt als östliches Land und ist stolz auf seine eigenen Bräuche und Traditionen. Lassen wir uns also überraschen. Die Fährfahrt war schonmal ein super Anfang, für ein paar Euro Aufschlag haben wir uns die Comfort-Class gebucht und wurden die 2 Stunden nun mit Snacks, Getränken, Wifi und schönen Fenster-Plätzen umsorgt. Um uns erstmal zu orientieren steuerten wir den Vanamoisa Caravanpark an, ein super schöner Platz mit Schwimmteich, Sauna, Spielplatz und vielen Tieren – hier verbrachten wir gleich 2 Nächte. Freistehen war zwar prinzipiell erlaubt im Land, man musste die schönen Plätze allerdings erstmal finden. Außerdem meinte es das Preisniveau endlich wieder besser mit uns und so gönnten wir uns immer mal wieder eine Nacht auf einem schönen Campingplatz. Unsere Erkundungstour führte uns dann in den Lahemaa Nationalpark, den ersten Nationalpark der damaligen Sowjetunion, in welchem viele seltene Vogelarten aber auch Elche, Biber und Luchse leben. Leider gibt es was die Verwaltung eines Nationalparks betrifft noch einiges zu lernen… Das Visitorcenter war nicht mehr als ein Schalter, welcher sogar Geld für eine kleine Übersichtskarte des Parks haben wollte. Picknickbänke oder Rastplätze gab es auf dem gesamten Gelände nicht. Zwei verschiedene Wanderwege nahmen wir uns vor, beide waren zwar ganz nett, aber sehr schlecht beschildert. Wir schauten uns zwei hoch angepriesene alte Gutshöfe an, mehr als ein paar Fotos von Außen gaben diese aber auch nicht her, ebenso wenig das Fischerdorf Altja. Highlights waren eine Bar in Käsmu (ein altes Ehepaar hatte im eigenen Garten Bänke aufgestellt und verkaufte aus dem Gartenhäuschen kalte Getränke und selbstgekochtes Essen) und ein kleiner Hafen mit ausgewiesenen gratis Womo-Plätzen. Unser nächstes Ziel war die Grenzstadt Narva. Der Weg dorthin führte uns durch ein hässliches Ölschieferindustriegebiet, die Häuser wurden je weiter wir Richtung Osten fuhren immer baufälliger. Besonders in Sillamäe und Narva war das Stadtbild von grauen Sowjet-Plattenbauten geprägt. Die Schilder waren plötzlich kyrillisch, fast 90% der Einwohner hier sprechen russisch. St. Petersburg war nur noch 140 Km entfernt, Tallinn dagegen 210 Km. Im Zuge der europäischen Ost-Erweiterung wurde Narva von einer deutschen Tageszeitung mal „hässlichste und verwahrloseste Stadt Europas“ genannt. Ganz so schlimm fanden wir es jedoch nicht, zwischen den bröckelnden Fassaden gab es viel Grün, wir saßen mehrfach in netten Cafés und beobachteten das Treiben um uns herum. Besonders imposant war natürlich die stattliche Hermannsfestung, die direkt gegenüber der russischen Burg Ivangorad thronte. Nur ein schmaler Fluss trennte uns hier von Mütterchen Russland. In einer Ecke der Burganlage fanden wir auch die einzige noch aufgestellte Lenin-Statue des Landes, die früher auf dem Peetri-Platz stand. Der Legende nach zeigt Lenins ausgestreckter Arm auf einen Ort des Unglücks, damals zB auf ein Café, das kurz darauf pleite ging. Heute zeigt sein Arm auf Russland. Nächster Stop war im kleinen Örtchen Kuremäe. Hier füllten wir unsere Wasservorräte an einer angeblich heiligen Quelle auf und beobachteten die Einheimischen, die Schlange standen um im Quellwasser zu baden. Anschließend schauten wir uns das Kloster Pühtitsa an, das einzig russisch-orthodoxe Nonnenkloster in Estland. In den wunderschön bepflanzten Gärten standen aufwändig verzierte Kirchen mit den für Russland so typischen Zwiebeltürmchen, die Nonnen trugen farbenfrohe bodenlange Gewänder. Am Peipus-See, einem der größten Seen Europas, der die Grenze zu Russland und somit die Ostgrenze der EU darstellt, mieteten wir uns auf einen kleinen Campingplatz im Kiefernwald direkt am Ufer des flachen Sees ein und genossen das Urlaubsfeeling am feinen Sandstrand. Lange spielten wir mit Zoé im flachen, ruhigen Seewasser, wirklich richtig schön und verständlich, wieso die Esten ihren Urlaub gern hier verbringen. Besonders gut gefallen hat uns auch die Landeshauptstadt Tallinn. Die Vororte mit ihren endlos langen Plattenbau-Siedlungen und das „Reichen-Viertel“ mit seinen meterhohen, videobewachten Mauern ließen erst etwas Skepsis aufkommen, doch die Altstadt war einfach nur wunderschön! Kopfsteinpflastergassen, traumhafte Kirchen und herrschaftliche alte Gebäude, lauschige Cafés und gemütliche Restaurants. Wir spazierten über den Rathausplatz mit seinen Marktständen, schauten uns die ehemalige KGB-Zentrale und ein altes Benediktinerkloster von Außen an, statteten der dicken Margarete und der Kiek in de Kök einen Besuch ab, liefen an der alten Stadtmauer entlang und schlenderten durch den Katharinengang. Jeder sprach ausgezeichnet Englisch, es gab viele Wifi-Hotspots und Tallinn durfte sich auch die erste papierlose E-Regierung der Welt nennen, eine wirklich tolle Stadt! In Keila-Joa gab es auf dem Gelände eines ehemaligen Gutshofes einen Wasserfall zu bestaunen und erklettern und wir trafen auf ein tolles Schweizer Rentnerpaar, die ihr ganzes Leben schon dauerhaft reisen und uns so wundervolle Worte wie „Wer den Reise-Virus schon in jungen Jahren hat wird ihn nicht mehr los und kann deshalb nicht bis zur Rente warten“ oder „Es ist ein Geschenk einen Partner gefunden zu haben, der diese Leidenschaft mit einem teilt“ mit auf den Weg gaben. Das versunkene Gefängnis von Rummu wurde leider zwischenzeitlich privatisiert und wir fanden keinen legalen Weg uns die Ruinen anzuschauen weshalb wir uns auf den Weg an die Westküste machten. Unser nächstes Highlight stand bevor: die Insel Saaremaa. Die Überfahrt mit der Fähre war aufgrund des Spielzimmers ein weiterer Höhepunkt von Zoé und wir wurden ab nun täglich gefragt, wann wir denn endlich mit dem tollen Schiff zurück auf’s Festland fahren würden J. Saaremaa selbst war ein absoluter Traum – kleine schöne Örtchen, Holzhäuser mit bunten Blumengärten, Kiefernwälder, Strände, Meeresrauschen und viele schöne Picknick- und Freistehplätze. In Angla gab es darüber hinaus alte Windmühlen zu sehen, in Karja eine alte gotische Kirche in einem verwucherten Garten – ein wunderbar stiller Ort, wo Zoé von einer alten Dame einen Kettenanhänger geschenkt bekam. In Kaali schauten wir uns ein 4.000 Jahre altes Meteoritenfeld an, der 9 Krater hinterlassen hat bevor wir in Kuressaare in einer alten Windmühle essen gingen. Fruchtiger Hauswein, Wildschweinfilet mit Pilzen und wieder einmal eine Spielecke für unsere Maus – die Insel gefiel uns einfach ausgesprochen gut. Zum Abschluss der Estland-Reise erkundeten wir die Küste zwischen Pernau und der lettischen Grenze. Besonders toll fanden wir ein rießiges Areal mit Feuerstellen, Picknickbänken und altem Baumbestand, das als gratis Camp- und Recreation-Area ausgewiesen war. An einem Samstag im Juli bei bestem Wetter waren wir die einzigen Besucher… Wenige Kilometer weiter entdeckten wir den Solar Caravan Park, wo wir uns mal wieder um die Wäsche kümmerten und es uns in der Sonne so richtig gut gehen liesen. Die gesamte Anlage wird mit Solarenergie betrieben, täglich boten die Besitzer erntefrisches Gemüse aus ihrem kleinen Feld nebenan an und es gab eine super schöne Spiel- und Malecke für Kinder – wir fühlten uns pudelwohl! Je weiter wir uns der lettischen Grenze näherten, je schöner und breiter wurden die Sandstrände am Meer, je mehr tolle Picknick- und Campingplätze versteckten sich in den Pinienwäldern. Die Grenze selbst verlief mitten durch ein winziges Örtchen, ein Picknickplatz bot Sitzgelegenheiten in beiden Ländern an J.

 

Fazit Estland:

In der Summe hat uns Estland gut gefallen. Die Menschen waren zwar recht zurückhaltend und haben nur selten gegrüßt, allerdings waren sie sehr hilfsbereit, offen und freundlich gegenüber Zoé. Die Landschaft war lieblich, flach und ländlich mit vielen Seen, Feldern und Wäldern. Was die Städte angeht haben wir ein sehr starkes Ost-West-Gefälle gespürt. Im Westen des Landes waren die Grundstücke riesig, die Holzhäuser sehr gepflegt und die Gärten bunt bepflanzt, es sah wirklich toll aus! Je weiter wir nach Osten fuhren, je mehr wurden diese jedoch von den alten grauen Sowjet-Plattenbauten verdrängt. Das Freistehen ist in Estland außerhalb von Ortschaften und Nationalparks offiziell erlaubt, allerdings muss man die schönen Plätze erstmal finden. Picknickplätze, Bänke oder Spielplätze gab es im Norden und Westen des Landes kaum. In den letzten Jahren haben jedoch immer mehr Camping- und Stellplätze eröffnet, die dementsprechend neu und meistens wirklich liebevoll gepflegt und geführt werden – und das für meist sehr kleines Geld. Generell sieht man im ganzen Land die Hinweisschilder, was alles mit Hilfe der EU-Gelder geleistet werden konnte, viele Straßen, Rastplätze & Co. sind nagelneu. Interessant fanden wir, dass auf den Autobahnen auch Fußgänger und Fahrräder gestattet waren… Das Preisniveau lag etwas unter dem deutschen, das Essen war deftig aber sehr lecker. Estland liegt auf der Höhe von Nord-Schottland und Süd-Alaska, was man bei den vorherrschenden sommerlichen Temperaturen jedoch kaum glauben konnte. Negativ zu vermerken haben wir eigentlich nur, dass es im Norden wieder mal zu wenig Spiel- und Picknickplätze gab, dafür aber deutlich mehr Mosquitos und Wespen als in Skandinavien. Die mangelnde Nationalparkverwaltung haben wir ja bereits angesprochen, hier sind wir aber vielleicht von Skandinavien und den USA etwas zu sehr verwöhnt. Unsere Highlights waren die Insel Saaremaa, die Altstadt von Tallinn und darüber hinaus der Peipus-See und das russische Nonnenkloster Pühtitsa. Eine schöne Zeit, und nun wollen wir sehen, ob sich die baltischen Länder ähneln oder ob uns in Lettland etwas völlig anderes erwartet.